Eine Retospektive von Dr. Sonja Lechner,

„Nur durch die Vollendung der Form kann die Form vernichtet werden, und dies ist im Charakteristischen das letzte Ziel der Kunst.“1

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling

So wie es nicht nur eine Form des Lebens gibt für jeden Menschen, eine einzige Möglichkeit, seine Vita zu gestalten, so wenig lässt sich auch die Form der Dinge auf eine Option beschränken: Tatjana Busch hat ihr OEuvre dieser Erkenntnis und deren künstlerischer Auslotung gewidmet.

1 Zit. nach F.W.J Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur

Natur, in: ders. ausgewählte Schriften, Bd. 2, 1985, s. 595

Am Anfang stand die Feststellung, dass Aussortiertes, nicht Realisiertes trotz seiner Verwerfung eine eigene Form besitzt.Papierene Entwürfe, zerknüllte Skizzen enthob die Künstlerin ihrer Wertlosigkeit, indem sie diese nicht dem Mülleimer überantwortete, sondern ihnen die Gegenständlichkeit verlieh, die ihnen abhanden gekommen zu sein schien im Moment ihrer Eliminierung. Gleichsam als erwecke sie Weggeworfenes zum Leben, gab sie dem Zerknüllten Struktur, zunächst in farblosen Arbeiten, dann in bunter Varietät. Tatjana Busch erhob das Fortgeschmissene zum Bildgegenstand, machte das Ausgesiebte bildwürdig. Diese contradictio in adiecto festigte die Künstlerin, indem sie Skizzen, Bonbonhüllen, Rechnungsbelege und vieles mehr auf festem Grund fixierte, sie vom Status des Getilgten in den Status des Gültigen beförderte. Die Künstlerin sah also das Potential einer Form in etwas scheinbar Formlosen – und ging nun einen Schritt weiter. Der Bildträger, welcher ihren Papieren Grund und Boden bot, wurde zum Fokus ihrer Arbeiten. Tatjana Busch begann, quadratische Aluminiumplatten mit Acrylfarben zu bemalen oder mit Autolack zu besprühen. Geometrische Formen homogener Vielfarbigkeit, die in Allusion an Josef Albers, Mondrian, den russischen Supprematismus und De Stijl kunsthistorische Bezüge zu inkludieren scheinen, entstanden auf dem Aluminium, bevor die Künstlerin den Malgrund Dreidimensionalität verlagerte, indem sie die plane Fläche durch vielfache Knautschung in eine Plastik transformierte. Das, was sie bislang im Zustand der Zerknüllung vorgefunden hatte, papierenen Abfall, schuf sie nun aus Intaktheit, als kehre sie den Prozess um, als stünde am Anfang die Unversehrtheit, die Formvollendung suggeriert, und am Ende die Versehrtheit, die tatsächlich die Form vollendet. Augenfälliger können die Möglichkeiten, die einem Objekt gegeben sind, nicht dargestellt werden, ist doch die letztendliche Formgebung auch wieder nur eine scheinbar endgültige, da gerade der Zustand ihrer Faltung impliziert, dass erneute Glättung möglich sein könnte, sprich, dass diese eine Form unzählige weitere Varianten in sich trägt.2

2 In der Tat verwandelt die Künstlerin ihre dreidimensionalen Arbeiten wieder

zurück in Fläche: Ihre „Portraits“ sind Fotografien ihrer Serien aus

unterschiedlichen Perspektiven, die übereinander gelagert ein Bild ergeben

(vgl. hierzu Prof. Thomas Raff, in:

Tatjana Busch – Objekte. Ausstellungskatalog

München 2007, o.S.).

Sichtbar werden diese in dem Moment, in welchem die Künstlerin die Objekte aufhängt, an dünnen Schnüren, frei drehbar im Raum. Nun kommt das  Licht ins Spiel: Sein Aufprall rückt mal den einen, mal den anderen Formaspekt ins Licht und lässt wiederum andere dem Schatten anheim fallen. Durch die Projektionen des Objektes auf dieumliegenden Wände entstehen im Lichteinfall nun hunderte möglicher Formen – nur für einen Augenblick bleiben Sie bestehen, nur für diesen beanspruchen sie Gültigkeit. Auch in der Korrespondenz der Objekte wird ihr Formpotential sichtbar. 2007 gewann Tatjana Busch den hausderkunst-preis für ihre Skulpturen „global while I was sleeping“ I und II, eine Arbeit, welche die Flaggen Europas auf jeweils einer unterschiedlich gebogenen und gefalteten Aluminiumplatte zeigt. Vielfach ist die Stellung der Flaggen variierbar: einzeln, in Zweiergruppen oder in ihrer Gesamtheit, stets symbolisierend, was Grundlage Europas sein muss Einheit trotz Vielheit – und was gleichzeitig auch die Herausforderung Europas darstellt, die Paul Lacroix bereits im 19. Jahrhundert auf den Punkt gebracht hatte: „Die Einigung Europas gleicht dem Versuch, ein Omlette zu backen, ohne Eier zu zerschlagen.“3

3 Zit. nach Rübel, Jan: Europa rückt

zusammen, in: Das Parlament Nr. 53.

So wie jedes Land eine Vielfalt an Ausformungen in sich trägt, so birgt auch jedes menschliche Leben zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten in sich. Oftmals braucht es neuer Begegnungen, um das zum Klingen zu bringen, was in einem angelegt ist – es braucht Interaktion, um Neues entstehen zu lassen, um etwas bislang Verborgenem Form zu geben. Diese Formgebung übernimmt im OEuvre von Tatjana Busch zumeist das Licht: Es ist der Partner, der zum Vorschein bringt, was ein Objekt enthält. Dass eine Form nicht nur gesehen und ertastet werden kann, sondern auch Gehör finden sollte, zeigt die Künstlerin in ihren Installationen, die den Ton Einzug halten lassen in ihr OEuvre und den Sehsinn wie den Tastsinn um den Hörsinn erweitern. Musikalische Kompositionen ummanteln nunmehr den Betrachter und bieten ihm einen ganzheitlichen Zugang zu dem Objekt, machen Form hörbar und Töne sichtbar. In der konsequenten Weiterentwicklung ihres Ansatzes bricht die Künstlerin in ihrer Serie „Flections“ mit unseren Sehgewohnheiten: Acrylglas ist nun der Objektträger von Tatjana Busch – die Durchsicht, die das Material ermöglicht, suggeriert Filigranität und doch ist jede Plastik fixiert in ihrer Biegung und Faltung. Wiederum ist es der Lichteinfall, der diese Festigkeit auflöst, der das verändert, was gegeben scheint, in eine Unendlichkeit der Formen. Doch: Nicht nur die Formen werden erst durch das Licht sichtbar, sondern auch das Licht erst durch die Form. Dieser Umkehrschluss verstärkt sich, wenn die Künstlerin das Licht installiert, indem sie seine Wirkung in einer Videoprojektion kanalisiert. Tatjana Busch lässt eine Lichtwelt entstehen, die alles, was unveränderlich, was statisch erscheint, in Frage stellt:

4 Potential of Form. Tatjana Busch 2010-2017. … it could be like this and also

like that … München 2017, S. 8.

Wir sehen mäandernde Lichtformen, abstrakte geometrische Strukturen, die sich beschleunigen, sich aufbauen – manchmal schnell, fließend oder aber ganz abrupt –, die kurz verharren, um im nächsten Moment zu zerfallen, und sich wieder neu erfinden und verändern. Es tauchen Farben auf, die sich athmossphärisch im Raum ausbreiten, sich vermischen, sich auflösen und wieder im additiven Farbspektrum weiß werden. All das, was sich hier in der Wahrnehmung des Betrachters entfaltet, ist ein stetiger Prozess des Werdens und Vergehens.“4 Der Betrachterstandpunkt ist aufgelöst, es gibt nicht mehr den EINEN Blickwinkel auf das Werk der Künstlerin. Selbst wenn Tatjana Busch das Licht dirigiert, indem sie es in einer „Lichterkette“ entlang des Randes einer Plastik verlaufen oder in Polyethylen atmen lässt, kann es nicht eingefangen werden und offeriert dem Betrachter unzählige Varianten seiner Formwerdung. Die Serie „Mirroring“ setzt diesen Gedanken fort: Poliertes Edelstahl dient der Künstlerin nun als Grundlage, das in der Handschrift ihrer Knautschung Aufstellung findet im Draußen. Dort trifft es nicht nur auf Licht, sondern auf alles, was die Umgebung bereit hält: das Grüder Landschaft, das Blau der Wolkenströme, das Grau der Häuser, die Buntheit passierender Passanten. Jeder Tag ruft andere Spiegelungen hervor, jede Stunde wird neue Formen gebieren. Und so führt uns die Künstlerin in ihrem OEuvre vor Augen, was es bedeutet, in einer Form deren Vielheit impliziert zu sehen, ein und dieselbe Sache aus mehreren Winkeln zu betrachten: Bewusstseinserweiterung und Seinsentfaltung im besten Wortsinne.